Voraussetzung von Designtheorie
Die philosophische Grundlagenforschung versucht die Frage zu beantworten, wie Wissenschaft überhaupt möglich ist… Dabei kennzeichnet sich Wissenschaft vorläufig einmal durch die Sache, also den Gegenstand, über den sie Wissen formuliert, und zum anderen durch die Methode, die sie dazu verwendet. Siegfried Maser: Einige Bemerkungen zum Problem einer Theorie im Design, 1972
Kurz: Eine Theorie bedarf einer genauen Beschreibung des zu behandelnden Gegenstandes, so wie der Erkenntnismethode, die diesem Gegenstand angemessen ist.
Erkenntnisgegenstand
Über was wollten wir theoriesieren? Ach ja, über Design! Aber: Was ist Design? Diese Frage lässt sich laut Gros in zwei Einzelne aufteilen:
»Was alles ist Design?«
»Was ist das Spezielle an Design?«
Auf die erste Frage gibt es so viele Antworten wie Designer (wahrscheinlich eher mehr), daher dient sie nicht sehr der Theoriebildung. Lassen wir sie einfach ausser Acht und widmen uns lieber dem Speziellen im Design. Schauen wir uns beispielhaft an, was ein selbständiger Web-Designer Arbeit nennt.
- Buchhaltung,
- Kundenaquise und -konsultation,
- IT (ohne funktionierenden Computer läuft nichts),
- Materialrecherche (gibt es neue Techniken, Software, Fonts, Icons oder Images),
- Weiterbildung (Aneignung neuer Techniken, Erlernen neuer Software, Workshops),
- Trendrecherche (Was macht die Konkurrenz? Was sind die Farben der Saison?),
- projektbezogene Recherche (Zielgruppenanalyse, Einarbeitung in die Kunden CI u.ä.),
- Design
Wir sehen, dass eigentlich nur ein geringer Teil der anfallenden Arbeit eines Designers wirklich Design ist.
Werfen wir nun einen genaueren Blick auf diese Designtätigkeit. Was macht beispielsweise ein Web-Designer? Er bekommt Inhalte geliefert und verpackt sie in eine Website. Er gestaltet ihre Form.
Dies zeigt uns nach Gros ein Weg zurück zum alten Formbegriff und er gewährt uns in seinen Ausführungen einen historischen Überblick über die Theoriefindung, die sich der Formgestalter seit der Industrialisierung ausgesetzt sah. Denn mit der Industrialisierung entstand der funktionalistische Kernsatz: form follows function. Wobei sich daraus eine Theorie selbst obsolet machen würde, da man sich nur noch um die Optimierung der praktischen Funktionen Gedanken machen müsste und die gute Form von selbst kommen würde. Sogar wurde darüber nachgedacht, Designtheorie in die Ingenieurswissenschaften einzugliedern. Dies ging bis zur Funktionalismuskritik in den 60er Jahren, ausgelöst durch die Trabantenstädte. Es entwickelte sich die Ansicht, dass auch psychische und soziale Bedürfnisse in die Gestaltung einbezogen werden mussten. So entstand der Erweiterte Funktionalismus. Doch von einem Produkt wird mehr verlangt als nur die Summe praktischer und sozialwissenschaftlicher Methoden zu sein. So schließt sich der Kreis mit weitergehenden Ansprüchen an die Form. Doch ist es keine glatte Rückkehr zum alten Formbegriff. Die gewonnene Erkenntnis ist, dass die Form auch den Inhalt vermitteln muss – ihm somit eine Stimme = Sprache verleiht. Das ist das Spezielle an Design. Daher wird die Produktsprache Gegenstand der Designtheorie.
Erkenntnismethoden
Die charakteristischen Merkmale der klassischen Wissenschaften sind kurz gefasst folgende:
Das Ziel der klassischen Wissenschaft ist es, ein System von objektiv wahren oder allgemeingültigen Sätzen aufzustellen.
Der Fortschritt der klassischen Wissenschaften steht in einer zunehmenden Präzisierung, in einer fortschreitenden Differenzierung der Formulierung der Erkenntnisse.
Das Prinzip der klassischen Wissenschaften ist das Prinzip der grundsätzlichen Bestimmbarkeit, der eindeutigen Festlegung.
Der Weg der klassischen Wissenschaft, um das gesteckte Ziel zu erreichen, besteht in der Bildung von Fach und Präzisionssprachen.
Eine Folge davon ist das Entstehen einer Vielzahl von relativ autonomen Disziplinen. Siegfried Maser: Einige Bemerkungen zum Problem einer Theorie im Design, 1972
Diese Definition soll uns helfen nach der richtigen Erkenntnismethode zu forschen. Zur Auswahl stehen uns auf der einen Seite die natur- und realwissenschaftlichen Methoden zur Verfügung, auf der anderen die geistes- und humanwissenschaftlichen Methoden. Schauen wir uns diese genauer an.
Die natur- oder realwissenschaftliche Erkenntnismethode
Gegenstand der Realwissenschaften ist das Reale. Resultierend aus der Beobachtung und ihrer sprachlichen Formulierung lassen sich Sätze bilden, die auf einem Repertoire von definierten Begriffen basieren. Diese Realdefinitionen bestehen aus der Angabe eines Messverfahrens. Daraus lassen sich Sätze formulieren, die entweder wahr oder falsch sind. Wahr ist ein Satz, wenn er mit der Realität übereinstimmt. Diese Beobachtung wird mit einem Experiment überprüft, das allerdings erst durch das Prinzip der Induktion und der daraus gebildeten Hypothese Allgemeingültigkeit erlangen kann.
Siegfried Maser bildet zur Veranschaulichung folgenden Kettensatz:
Realität + Beobachtung = Protokollsätze
Protokollsätze + Induktion = Hypothese
Hypothese + Verifikation = Gesetze
Gesetze + Erklärung = Theorie
Eventuelle Erklärung einer Theorie …
Ein Beispiel: Wir beobachten, dass ein Apfel zur Erde fällt. Das soll unser Protokollsatz sein, den wir abstrahieren, d.h. auf die Allgemeinheit erweitern: Alles fällt zur Erde! Das probieren wir aus. Wir schnappen uns ein Messband und ein Stoppuhr, lassen unterschiedliche Gegenstände aus unterschiedlichen Höhen zu Boden fallen und nehmen die Zeit. Nach einigen Versuchen vergleichen wir die Ergebnisse und das Mathe-Genie in uns erkennt nicht nur, dass alles zu Boden gefallen ist, sondern dass es sich auch noch mit gesetzmäßigen 9,80665 m/s² beschleunigt.
Bitte, ersparen Sie es mir die Erklärung hierfür hin zu schreiben! Wenn Sie es genauer wissen möchten, dann folgen Sie dem Link zu Schwerkraft.
Ist ein solches Verfahren auf den Erkenntnisgegenstand Produktsprache anwendbar?
Schauen wir einmal: Wir beobachten, dass Leute weniger rote als silberne Autos kaufen. Und sieh da, schon das stimmt nicht immer. Denn entgegen dem Apfel, der immer hinunter fällt, kauft sich jemand nur ein silbernes Auto, wenn ihm danach ist. Man könnte auch sagen, wenn die Produktsprache des Autos der Vorstellung des Käufers entspricht. Daraus ergeben sich zwei Probleme:
- die Vorstellung des Käufers ändert sich ständig, durch schwer zu definierende Einflüsse und ist daher schwer bestimmbar.
- weder die Vorstellung des Käufers, noch die Produktsprache besitzen eine Masseinheit.
Und das ist der Knackpunkt, warum die realwissenschaftliche Erkenntnismethode sich nicht für unseren Erkenntnisgegenstand eignet: Produktsprache einfach ist nicht messbar.
Das Semantische Differenzial
An diesem Punkt bin ich nicht ganz einverstanden mit Gros. Er geht auf den nächsten Seiten kurz und sehr ablehnend auf das Semantische Differential ein. Ich denke der vornehmlich Grund dafür ist, dass es damals neu war und Marketing-Abteilungen es als die wissenschaftlichste Methode überhaupt priesen, um Design zu messen. Mittlerweile wissen wir, dass das nicht stimmt (oder wir sollten es wissen)!
Ein Semantisches Differenzial gibt dem Rezipienten die Möglichkeit, seine subjektiven Eindrücke in eine Tabelle einzuordnen. Dies kann z.B. benutzt werden um Vergleich zu ziehen, zwischen dem Eindruck den eine Marke beim Konsumenten hinterlässt und ihrer Produktgestaltung. Wenn man bei solchen Test auf grosse Differenzen stösst, so könnte das als Hinweis gedeutet werden, dass man vielleicht doch noch einmal zurück an den Zeichentisch muss, wobei deutliche Übereinstimmungen ein gutes Zeichen dafür sein können, dass man richtig liegt.
Da es sich jedoch in jedem Fall um subjektive Eindrücke handelt, hat es eigentlich nichts im Kontext mit der realwissenschaftlichen Erkenntnismethode zu suchen.
Exkurs: Die journalistische Erkenntnismethode
Gros zitiert einen Artikel aus der Zeitschrift Stern über die damalige neue Modefarbe schwarz. Dies soll klarmachen, dass die Assoziationen, die wir mit einer Farbe in Verbindung bringen sehr stark von ihrem geschichtlichen und soziologischen Kontext abhängig ist, was er die Praxis vorwissenschaftlicher Zeichendeutung nennt, und was eigentlich auch heute noch der Standard ist, wenn wir über Design versuchen zu theoriesieren.
Daher regt er an, diese genauer zu analysieren und optimieren, um dort mit der geisteswissenschaftlichen Theorie der Produktsprache anzuknüpfen.
Den entsprechenden Stern-Artikel finden Sie im Glossar, und er ist wirklich lesenswert.
Die geisteswissenschaftliche Erkenntnismethode
In den Geisteswissenschaften geht es nicht darum absolute, objektiv gültige Wahrheiten herauszubekommen, sondern um die Erkenntnis und Deutung von realen Phänomenen, seien sie sozialer, geistiger oder kultureller Natur. Dies beginnt mit der Suche nach dem Offensichtlichen, nach Evidenzerlebnissen (man könnte auch Aha-Erlebnisse sagen). Gros bringt hier zwei Beispiele:
Der Eskimo der 30 (wahrscheinlich sind es mehr) verschiedene Wörter für Schnee kennt. Für ihn ist es daher viel einfacher Schnee zu unterscheiden und zu beschreiben. Es ist für ihn offensichtlich, um welche Art von Schnee es sich handelt. Dies ist besonders praktisch, wenn man jemandem mitteilen möchte, in welchem Schnee man versinkt und auf welchem Schnee man gefahrlos gehen kann. Für mich ist Schnee in erster Linie weiss.
Der Experte für alte Sprachen. Um die Methodik der Hermeneutik zu erklären, die sich immer in einer Kreisbewegung zwischen den Polen Evidenzerlebnis (in diesem Fall eine Annahme) und Begründung bewegt. Bei dieser Methode ist man sich bewusst, dass unser Bezugspunkt nur eine Interpretations ist, wir aber dennoch davon ausgehen und versuchen eine Begründung dafür zu finden, die uns einen neues Aha-Erlebnis beschert, das wir dann wieder versuchen zu begründen… In diesem Schema geht es weiter bis unser Erkenntnisstand ausreichend ist. Ein praktisches Beispiel finde sich auch in der Dechiffrierung von Geheimnachrichten. In der Regel sucht man nach den sich am Häufigsten wiederholenden Buchstaben oder Buchstabenkombinationen und macht sich dann Gedanken, was es heissen könnte. Dann versucht man die gewonnenen Erkenntnis auf den Rest anzuwenden. Ergibt sich ein neuer Aha-Moment, liegt man richtig, wenn nicht muss man eine andere Annahme formulieren. Im Fall Enigma waren es die Worte wie »Oberkommando Wehrmacht«, die es den alliierten Spezialisten ermöglichte, den Code der Deutschen zu knacken.
In beiden Fällen läuft es darauf hinaus, dass je mehr Hintergrundwissen ich habe und je feiner mein Wortschatz ist, desto tiefer werden meine Evidenzerlebnisse sein. Diese Erkenntnismethode wird nie so präzise Ergebnisse liefern können, wie ein Messverfahren (soll sie ja auch gar nicht), jedoch ist sie mehr eine rein subjektive Aussage des Betrachter.
Diese Erkenntnismethode passt nach Gros‘ Ansicht besser zu einer Theorie der Produktsprache, oder wie er es lieber ausdrückt:
Design ist zwar nicht messbar, aber weitgehend interpretierbar.